Corona-Krise als Chance für Potenzialentfaltung bei SchülerInnen
Im Idealfall lernen SchülerInnen momentan mehr für ihr späteres Leben, als wenn sie zur Schule gingen - das sagt der Bildungsforscher und Neurobiologe Gerald Hüther. Die Zeit der Schulschließung sei eine Chance für Kinder und Jugendliche „ohne Druck herauszufinden, was einen wirklich interessiert“, so der Bildungsexperte.
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„Wir sind mit einer Situation konfrontiert, die wir so nicht erwartet hatten. Das führt zu Verunsicherungen, zu Hilflosigkeit - im Hirn zu einer Störung der Kohärenz".
Dennoch berge die Corona-Krise für Kinder und Jugendliche mehr Chancen als Risiken, ist Bildungsforscher Gerald Hüther überzeugt.
Unterschiedliche Bewältigungsstrategien
Laut Hüther gibt es drei Arten, wie Familien versuchen, ihren Alltag in der Corona-Krise neu zu sortieren. Zum einen gäbe es die erfolgsgetriebenen Eltern, die Angst haben, dass ihr Kind nicht die erforderlichen Leistungen erbringen kann. Daher werden so viele Aufgaben und Lernübungen wie möglich gemacht. Das Kind wird unter Druck gesetzt und kann sich nicht frei entfalten. Zum anderen gibt es Familien, die sich überhaupt nicht um die Kinder kümmern oder den Kindern die nötige schulische Unterstützung nicht geben können. Die dritte und idealste Variante sei jene, welche die Kinder bei den schulischen Pflichten unterstützt, ihnen aber auch genügend Freiräume lässt, sich mit Themen auseinanderzusetzen. Laut dem Bildungsforscher gäbe es eine Vielzahl an Kindern und Jugendlichen die jetzt entdeckt, dass es Spaß machen kann, eigene Interessen zu verfolgen, sich zu vertiefen und Dingen selbst auf den Grund zu gehen.
Im Idealfall fördert Schulschließung das Entwicklungspotenzial der Kinder
Gäbe es nicht die Gruppe der extrem erfolgsorientierten Eltern und jene, die die Kinder überhaupt nicht unterstützen, wäre die derzeitige Schulschließung das Segensreichste, was den Kindern während ihrer schulischen Laufbahn passieren könne, so Gerald Hüther. Denn jetzt sei die Zeit, wo sich Kinder selber überlegen können: „Was mache ich eigentlich?“ Eltern, deren Kinder im Moment zuhause sind, hören derzeit sicher oft „Mir ist so langweilig“. Immer gleich nach einer Beschäftigung für die Kinder zu suchen, ist laut Hüther aber falsch. Der oft kritisierte Zustand der Langeweile sei neurobiologisch sehr wichtig. Denn aus der Langeweile heraus würden sich Ideen entwickeln. Wer immer von außen mit Informationen „zugeballert“ wird, kann nur reagieren, aber niemals agieren. Die einzige Art und Weise etwas wirklich nachhaltig zu lernen ist, wenn man selbst der Konstrukteur seines eigenen Lernprozesses ist. Das von außen, von den Eltern und den Schulen „Gedrückte und Geschobene“ helfe nichts. „Kinder sind keine Zahnpasta Tuben, je mehr man drauf herumdrückt, desto weniger kommt raus“, ist der Bildungsforscher überzeugt. Das Beste, was man als Elternteil machen könne, sei dem Kind genügend Freiräume zu gewähren. Das sei die einzige Chance, die eigene Entdeckerfreude und Gestaltungslust wieder zum Leben zu erwecken. „Die Corona-Krise ist die erste Gelegenheit seit über 20 Jahren, wo für alle Kinder in allen Bereichen in der Gesellschaft die Gelegenheit besteht, dass sie spüren können, ob da noch etwas heraus will aus ihnen“, so Hüther.
Das Kind als Objekt der Vorstellungen und Wünsche der Eltern
„Sobald ich das erledige, was andere von mir erwarten, mache ich mich zum Objekt von denen. Und da stirbt die persönliche Potenzialentfaltung“, so Hüther. Besonders Kinder seien in der Position, es den Eltern Recht machen zu wollen. Übervorsichtige und ängstliche Eltern hindern ihre Kinder daran, die für ihr Leben entscheidenden Erfahrungen zu machen, warnt der Neurobiologe. Man müsse darauf achten, dass die Rahmenbedingungen stimmen und die Kinder sich nicht verletzen könnten. Ansonsten: „Lassen Sie sie einfach mal ein bisschen laufen.“ Entdeckerfreude habe jeder Mensch einmal gehabt. Bei den meisten sei sie jedoch verschwunden, da die Freude des Entdeckens naturgemäß verschwindet, wenn das Kind Aufforderungen wie „Schlage bitte Seite 10 des Geschichtsbuchs auf“ bekommt. Laut Hüther sei jede Krise eine Chance, eine Chance für eine tiefgreifende Veränderung. „Das Schlimmste, was uns passieren kann ist, das alles so weiter geht wie bisher“, meint Hüther.